Nzoy Commission
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Trascrizione conferenza stampa

Comunicato stampa

20.11.2023

Ritorno

Das vorliegende Dokument ist eine Transkription der Audioaufnahmen. Die meisten Interventionen wurden für die deutsche Version aus dem Französischen übersetzt.

Anwesend auf dem Podium:
Maïna Aerni, Juristin der Kommission (Moderation)
Evelyn Wilhelm, Klägerin und Schwester von Roger Nzoy Wilhelm
Me Ludovic Tirelli, Rechtsanwalt
Brigitte Lembwadio, Rechtsanwältin, Mitglied der Kommission
Philip Stolkin, Rechtsanwalt, Mitglied der Kommission
David Mühlemann, Jurist, Mitglied der Kommission
Yosina Koster, Juristin, Mitglied der Kommission
Dr. Martin Hermann, Chirurg, Mitglied der Kommission
Prof. em. Udo Rauchfleisch, Psychologe, Mitglied der Kommission
Claske Dijkema, Soziologin, Mitglied der Kommission

Anwesend per Zoom:
Elio Panese, Border Forensics

Maïna Aerni, Juristin der Kommission
Audio 00:06:49.6   Sehr geehrte Damen und Herren.

Willkommen zur Medienkonferenz der Unabhängigen Expert:innenkommission zur Aufklärung der Wahrheit über den Tod von Roger Nzoy Wilhelm. Mein Name ist Maïna Aerni. Ich bin Juristin und ein Mitglied der Kommission.

Roger Nzoy Wilhelm wurde am 30. August 2021 von einem Beamten der Regionalpolizei im Beisein drei weiterer Polizist:innen am Bahnhof Morges erschossen und lag danach mehrere Minuten ohne Hilfeleistung auf dem Boden. 

Der Tod von Roger Nzoy Wilhelm reiht sich ein in Vorfälle massiver – teils tödlicher – staatlicher Gewalt gegen People of Color in der Schweiz. Alleine im Kanton Waadt sind in den letzten Jahren bereits Hervé Mandundu, Mike Ben Peter und Lamin Fatty infolge von Polizeieinsätzen verstorben. In keinem dieser Fälle wurden die beteiligten Polizeibeamten verurteilt. Aus diesem Grund hat sich eine Unabhängige Kommission von Expert:innen zur Aufklärung der Umstände des Todes von Roger Nzoy Wilhelm konstituiert.

Nun ist die Arbeit der Kommission akut dringend geworden. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Waadt, die mit dem Fall Roger Nzoy Wilhelm betraut ist, beabsichtigt, eine Einstellungsverfügung bzw. eine Nichtanhandnahmeverfügung wegen fahrlässiger Tötung und unterlassener Hilfeleistung gegen die beteiligten Polizeibeamt:innen zu erlassen. Die Staatsanwaltschaft ist für die Untersuchung von Fällen polizeilicher Gewalt zuständig, obwohl zwischen diesen beiden Institutionen eine starke Verflechtung besteht. Der Gesetzgeber hat keine unabhängige Stelle für Fälle von Polizeigewalt geschaffen, weshalb eine zivilgesellschaftliche Kontrolle dringend erforderlich ist.

Heute präsentieren wir Ihnen die vorläufigen Resultate unserer unabhängigen Untersuchungen im Fall Roger Nzoy Wilhelm, welche wir in Zusammenarbeit mit Border Forensics durchführen. Es handelt sich um einen kurzen Film, der den Tathergang ganz genau, Sekunde für Sekunde, rekonstruiert und so Fakten und Beweise hervorbringt, die bisher unbeachtet blieben. Elio Panese von Border Forensics wird diesen Film einführen. Im Anschluss werden Ludovic Tirelli (Anwalt der Kläger:innen) sowie Kommissionsmitglieder Martin Herrmann (Chirurg) und Udo Rauchfleisch (klinischer Psychologe) die Arbeit von Border Forensics kommentieren. Zum Schluss beantworten Herr Tirelli, Nzoys Schwester und Klägerin Evelyn Wilhelm, sowie die anwesenden Mitglieder der Kommission gerne Ihre Fragen. Einige Kommissionsmitglieder stehen auch für individuelle Interviews zur Verfügung.

Ich übergebe nun das Wort an Elio Panese.

Elio Panese, Border Forensics (Übersetzung aus dem Französischen)
00:10:31.5   
Vielen Dank und entschuldigen Sie, dass ich heute nicht physisch bei Ihnen sein kann. Mein Name ist Elio Panese, ich bin Forscher bei Border Forensics. Um uns kurz vorzustellen: Border Forensics ist eine Forschungs- und Ermittlungsagentur mit Sitz in Genf. Wir entwickeln modernste visuelle, geografische, räumliche und Open-Source-Forschungsmethoden, um verschiedene Formen der Gewalt zu dokumentieren, die mit Grenzen und deren Kontrolle verbunden sind, ob staatliche oder sozial. Wir arbeiten mit Betroffenen und mit Organisationen der Zivilgesellschaft zusammen und erstellen Berichte, Karten, Videos und verschiedene 3D-Visualisierungen, um die Forderung der Familien der Opfer und der Vertreter:innen der Zivilgesellschaft nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu unterstützen. In den letzten Jahren – wie Sie auf unserer Website sehen können – haben sich unsere Untersuchungen auf Fälle von Gewalt in Grenzgebieten wie den Alpen, dem Mittelmeerraum oder der Sahelzone konzentriert, aber in jüngster Zeit erschliessen wir neue Untersuchungsgebiete in der Schweiz, wo wir auch unseren Sitz haben. In diesem Zusammenhang und auf Wunsch der Familie von Roger Nzoy Wilhelm arbeiten wir nun seit mehreren Monaten an einer genauen Rekonstruktion der Ereignisse vom 30. August 2021, die zum Tod von Roger Nzoy Wilhelm führten, und werden eine genaue Analyse der Handlungen aller beteiligten Personen vornehmen. Unsere Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Aber wir veröffentlichen heute einige vorläufige Analyseelemente in Form eines Videos, das Sie gleich sehen werden und das durch einen Bericht ergänzt wird, der unsere Methoden und Ergebnisse detailliert beschreibt und den Sie wahrscheinlich gerade in den Händen halten. All diese Elemente wurden auch an die Staatsanwaltschaft des Kantons Waadt weitergeleitet.

00:12:10.3    Das Video, das Sie gleich sehen werden, betrifft nur einen Teil der Ereignisse vom 30. August 2021, und zwar die Zeit zwischen 17:59 Uhr und 2 Sekunden, als Roger Nzoy Wilhelm nach dem dritten und letzten Schuss zu Boden geht, und 18:07 Uhr und 45 Sekunden, dem Ende der Video- und Audiodaten in den Akten, welche der Familie von Roger Nzoy Wilhelm zur Verfügung stehen. Noch einmal: Unsere Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, dieses Video ist nur ein Teil davon, und das Endergebnis, das wir zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlichen werden, wird über das hinausgehen, was wir heute präsentieren. Es wird die Ereignisse in ihrer Gesamtheit detailliert, präzis und nachprüfbar rekonstruieren und analysieren. Ich schlage Ihnen nun vor, dass wir uns den Film ansehen.

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(Abschrift des Films; Übersetzung aus dem Französischen)

DER TOD VON ROGER 'NZOY' WILHELM

Eine Gegenuntersuchung von Border Forensics

Vorläufige Analyseergebnisse, November 2023

Auf Ersuchen der Familie von Roger 'Nzoy' Wilhelm und in Zusammenarbeit mit einer unabhängigen Untersuchungskommission führt Border Forensics eine Untersuchung durch, um die Ereignisse zu rekonstruieren, die zu dessen Tod am 30. August 2021 geführt haben.

Obwohl unsere Ermittlungen noch andauern, legen wir eine vorläufige Analyse der Ereignisse nach den Schüssen eines Polizeibeamten vor. Die Analyse betrifft den Zeitraum, als Roger 'Nzoy' Wilhelm auf dem Boden liegt.

Durch die Zusammenführung der Zeugenvideos und ihrer Metadaten, der uns zur Verfügung gestellten Fragmente von Aufzeichnungen der Polizeikommunikation sowie der Protokolle der Anhörungen der beteiligten Polizeibeamten und der Zeug:innen hat Border Forensics den Tathergang chronologisch rekonstruiert und die Handlungen der beteiligten Personen analysiert.

Wir weisen nach, dass die Polizeibeamten keine Rettungs- oder Wiederbelebungsmassnahmen einleiteten und stattdessen Sicherheitsmanipulationen vornahmen, während Roger 'Nzoy' Wilhelm mit einer Schussverletzung am Boden lag und offensichtlich ohne dass eine Bedrohung von ihm ausging.

ACHTUNG: Dieses Video enthält gewaltvolle Bilder.

00:14:36.3   

Bahnhof von Morges, es ist 17:59:02 Uhr. Roger Nzoy Wilhelm wird von einem dritten Schuss getroffen. Er bricht zusammen.

auf dem Bahnsteig befinden sich vier Polizeibeamte. PO4 ist der Täter, der die Schüsse abgegeben hat. PO1 und PO2 sind als Erste am Tatort. PO3 steht in Funkkontakt mit der Polizeizentrale.

[PO3] «Schüsse, Schüsse, schnell einen Krankenwagen!»

[Zentrale] «Jorat-Mixte, schicken wir das alles an den Bahnhof Morges?»

[PO3] «Gleis 4, Gleis 4.»

[Zentrale] «Verstanden.»

PO4 zieht sich zurück.

Um 17:59:43 Uhr filmt ein Fahrgast die Szene aus dem Zug heraus. Zur selben Zeit kommuniziert PO3 per Funk.

[PO3] «Der Mann hat immer noch das Messer, ich wiederhole, der Mann hat immer noch das Messer, er liegt am Boden. Ist bei Bewusstsein.»

PO3 setzt seinen Funkverkehr auf zwei Kanälen gleichzeitig fort. Zum besseren Verständnis spielen wir diese Aufnahmen nacheinander ab.

[Zentrale] «Ist 36228 immer noch eine Bedrohung? Bitte kommen.»

[PO3] «Nein, ich glaube nicht. Danke.»

[Zentrale] «Für die Kollegen in Morges von Jorat-Mixte: Ambulanz und SMUR sind unterwegs – können wir ein paar Informationen bekommen?"

 (PO3) «Ich habe nicht allzu viel mehr Informationen. Ein Mann mit dunkler Hautfarbe. Er liegt am Boden.»

In der oberen Etage des Zuges startet ein Fahrgast ein Video. PO3 setzt sein Funkgespräch fort.

[Zentrale] «Verstanden. Das Feuer haben Sie eröffnet?»

[PO3] «Ja, die PRM.» [Police Région Morges]

[Zentrale] «Verstanden.»

[Zentrale] «36228, bitte kommen.»

[PO3] «Ja, warte, (???) zwei Sekunden.»

PO3 scheint weiterhin über das Radio zu kommunizieren. Die Aufnahme ist jedoch nicht in der Akte der Staatsanwaltschaft enthalten, zu der die Familie von Roger 'Nzoy' Wilhelm Zugang hatte. In den folgenden Minuten führen PO1, PO2 und PO3 verschiedene Sicherheitsmanipulationen an Nzoy durch. Sie ziehen seine Arme unter seinem Oberkörper hervor und legen ihm auf dem Rücken Handschellen an. Keine:r der Beamten kontrolliert seinen Gesundheitszustand oder versucht, mit ihm zu kommunizieren. 

[Zentrale] "Jorat-Mixte für 6-89.»

[PO3] «???'?? Die Person liegt auf dem Boden. Er ist mit Handschellen gefesselt. Ich wiederhole, er ist in Handschellen.»

[Zentrale] «???'?? 201, ich rufe dich per Draht [Telefon] an.»

[Zentrale] «Von Jorat-Mixte zum Bahnhof, Person am Boden, in Handschellen. Richtig?»

[PO2] «Ja.»

Um 18:01:30 Uhr, also etwas mehr als zweieinhalb Minuten nach dem letzten Schuss, ist eine Bewegung an Nzoys Armen zu sehen. Wir zoomen in das Bild, um diese Bewegung zu analysieren.

Laut einer unabhängigen medizinischen Analyse dieser Bilder scheinen Atembewegungen der liegenden Person sichtbar zu sein.

In seiner Vernehmung am Abend der Ereignisse sagt PO2 aus, dass der Getroffene zum Zeitpunkt der Handschellen nicht gesprochen, aber geatmet habe.

PO2 sagt in einer zweiten Anhörung im Juni 2022 erneut: «Ich habe eine Atembewegung gesehen, d. h. eine Bewegung seines Brustkorbs.»

Gehen wir noch einmal den Ablauf der Ereignisse durch.

PO1 nähert sich dem am Boden liegenden Roger 'Nzoy' Wilhelm und legt ihn in die Seitenlage. In seiner Anhörung erklärt er, dass er ihn abgetastet und eine Sicherheitsdurchsuchung durchgeführt hat.

PO3 geht nun seinerseits auf Nzoy zu und entfernt mit seinem Fuss einen Gegenstand, der sich unter dessen Oberkörper befindet.

PO1 gibt an, Roger 'Nzoy' Wilhelms linke Seite angehoben zu haben, «damit [PO3] die Stichwaffe ergreifen und sichern konnte».

In einer Anhörung im Juni 2022 erklärte PO1: «Ich dachte nur daran, dass er kontrolliert werden muss, damit wir sicher sind.»

Diese Manipulation der Beamten, die wie eine Erste-Hilfe-Massnahme aussehen könnte, scheint eher aus Sicherheitsgründen erfolgt zu sein.

Die unabhängige medizinische Analyse besagt ihrerseits, dass die Beamten «erst spät die Reaktion hatten, ihn in die sichere Seitenlage zu bringen». – «Potenziell konnte so die Atemkapazität behindert werden, zumal die Handschellen auf dem Rücken aufrechterhalten wurden.»

PO3 tätigt danach einen Funkspruch, aber die Aufnahme ist nicht in der Akte der Staatsanwaltschaft enthalten, zu der die Familie von Roger 'Nzoy' Wilhelm Zugang hatte.

00:21:00.0

In den nächsten Minuten bewegt sich Roger 'Nzoy' Wilhelm weitere drei Male. Wir zoomen in das Bild, um diese Bewegungen zu analysieren: um 18:02:20; um 18:02:35; um 18:02:54.

Diese vierte Bewegung von Nzoy scheint die Aufmerksamkeit der Beamten PO3 und PO1 zu erregen, die sich in einiger Distanz aufhalten. PO3 kommt näher. Er bewegt Nzoys Körper mit seinen Füssen.

Um 18:03:29 Uhr beugt sich PO1 zu Nzoy hinunter, bleibt aber auf Distanz. In seiner Vernehmung am selben Abend sagte er: «Ich hörte ein Röcheln, aber ich hatte keine Zeit, seinen Gesundheitszustand zu überprüfen, weil der Arzt kam und sich sofort darum kümmerte.» Zu diesem Zeitpunkt war es 4,5 Minuten her, dass Nzoy vom dritten Schuss getroffen worden war.

In Übereinstimmung mit der Aussage von PO1 zeigt das Videobild um 18:03:40 Uhr eine Person auf einem Trottinett, die am Tatort ankommt. Er ist Krankenpfleger und hat die Szene vom Zug aus beobachtet, der in der Nähe angehalten hatet. In seiner Zeugenaussage erklärt er

«[PO3] hat mir ein Zeichen gegeben, dass ich Abstand halten soll. Ich gab mich zu erkennen und er sagte mir, dass der Tatort nicht gesichert sei. Ich selbst hatte gesehen, dass das Opfer einen Herz-Kreislauf-Stillstand hatte.»

Um 18:03:50 Uhr ist im Video eine fünfte Bewegung von Nzoy zu sehen; wir zoomen heran.

PO1, PO3 und der Pfleger positionieren dann Roger 'Nzoy' Wilhelm auf dem Rücken.

Das Video wird abgeschnitten, und für einen Zeitraum, der auf etwa eine Minute geschätzt wird, haben wir keine Audio- oder Videodaten.

Als der Zug um ca. 18:05:10 Uhr wieder abfährt, ist die Herzmassage im Gang.

Um 18:05:48 Uhr, während der Sanitäter die Herzmassage durchführt, entfernt PO3 die Handschellen von Rogers 'Nzoy' Wilhelm.

In seiner Anhörung am Abend des Ereignisses sagte PO3: «Ich habe während der Herzmassage des Pflegers eine Sicherheitsdurchsuchung durchgeführt. Da es keine anderen Gegenstände gab, beschloss ich, ihn zu entkleiden.»

Der Pfleger erzählt dieselbe Szene.

[Der Pfleger] «[PO3] erkannte, dass die Situation ernst war, und fragte, ob die Handschellen abgenommen werden sollten. Ich sagte ihm, er solle selber schauen, weil ich diese Entscheidung nicht treffen wollte. [PO3] hat ihm die Handschellen abgenommen.»

PO3 nimmt dann ein Kleidungsstück und drückt auf die Wunde von Nzoy. In seiner Anhörung erklärt er, er habe «das Hemd der Person benutzt, um eine Okklusion zu machen». Die Herzmassage wird mehrere Minuten lang fortgesetzt.

Das Video stoppt bei 18 Stunden, 7 Minuten und 45 Sekunden.

Diese vorläufigen Analyseergebnisse zeigen, dass Roger 'Nzoy' Wilhelm während der sechseinhalb Minuten zwischen dem dritten Schuss und der Erstversorgung durch einen Krankenpfleger, der Zeuge der Szene war, verschiedene Atembewegungen machte, als er mit einer Schusswunde auf dem Boden lag.

Obwohl alle vier Beamten eine Erste-Hilfe-Ausbildung absolviert hatten, priorisierten sie Sicherheitsmassnahmen und unternahmen bis zum Eintreffen des Krankenpflegers, der Zeuge des Geschehens war, keine Rettungs- und Wiederbelebungsmassnahmen.

Eine schlüssige Untersuchung aller Ereignisse, die zum Tod von Roger 'Nzoy' Wilhelm führten, erfordert, dass die Staatsanwaltschaft des Kantons Waadt alle nützlichen und fehlenden Beweismittel in die Akte aufnimmt.

Wir setzten unsere Gegenuntersuchung fort, um die Forderung der Familie von Nzoy nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu unterstützen.

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Rechtsanwalt Ludovic Tirelli, Anwalt der Familie von Nzoy (Übersetzung aus dem Französischen)

00:27:22.0

Meine Damen und Herren, in diesem Fall gibt es zwei Stränge.

Der erste Teil ist der Tatbestand der Tötung, bei dem uns die Staatsanwaltschaft nun mitteilt, dass sie die Untersuchung schliessen will.

Der zweite Teil ist die Unterlassene Hilfeleistung, zu der die Staatsanwaltschaft ankündigt, dass sie nicht einmal ermitteln will.

Das Video, das wir gerade gesehen haben, bezieht sich ausschliesslich auf diesen zweiten Teil. Und es lässt einen schaudern. Die Untersuchung von Border Forensics zeigt die Untätigkeit der Polizei. Die Untätigkeit der Polizei bei der Rettung eines Mannes, der gerade von einer Polizeiwaffe getroffen wurde.

Rechtlich gesehen, meine Damen und Herren, stellt Artikel 128 des Strafgesetzbuches eine Straftat dar – ich zitiere: Wer einem Menschen, den er verletzt hat, oder einem Menschen, der in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, nicht hilft, obwohl es ihm den Umständen nach zugemutet werden könnte …»

Alle Elemente, die Sie in dem Video sehen, befinden sich in der Akte der Staatsanwaltschaft.

Trotz dieser Elemente will die Staatsanwaltschaft nicht auf die unterlassene Hilfeleistung eingehen.

Im Klartext bedeutet dies: Es scheint ihm erwiesen zu sein, dass der Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung nicht erfüllt sei. Dass es keinen hinreichenden Verdacht auf unterlassene Hilfeleistung gebe.

Die Arbeit von Border Forensics enthüllt das genaue Gegenteil. Und diese Arbeit hat den Vorzug, dass sie die verschiedenen Videos und Tonbänder, die verstreut in der Akte der Staatsanwaltschaft enthalten sind, chronologisch in einem einzigen audiovisuellen Dokument zusammenfügt.

00:29:20.0    Dass das Verhalten der Polizeibeamten eine unterlassene Hilfeleistung darstellen könnte, haben wir in unseren Briefen an die Staatsanwaltschaft ausführlich dargelegt. Trotzdem will die Staatsanwaltschaft immer noch nicht ermitteln.

Die Worte, die wir geschrieben haben, wurden vielleicht nicht verstanden. Aber jemand hat einmal gesagt, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte. Heute gehen wir also von den Worten zu den Bildern über. Und das ist auch gut so, denn Bilder gibt es in der Akte jede Menge. Aber ja, diese Bilder in der Akte sind nicht geordnet, sondern liegen verstreut. Man muss sie nacheinander öffnen und chronologisch ordnen, um einen Überblick zu bekommen: Videobilder, Audiobänder … – wobei man sagen muss, dass wir nicht alle Audiobänder haben, wie die Arbeit von Border Forensics zeigt.

Nun hat Border Forensics all diese Beweise, die sich in der Akte befinden, angeordnet, um der Staatsanwaltschaft die Arbeit zu erleichtern. Und dieses Video wurde gestern an die Staatsanwaltschaft geschickt, die es heute erhält. Dieses Video wurde also an die zentrale Staatsanwaltschaft gesandt, zusammen mit anderen Anträgen – es ist nicht der einzige Beweisantrag –, die darauf hinauslaufen, dass Nzoys Familie das Recht auf eine effektive Untersuchung hat.

00:31:05.1    Wie Sie von Herrn Panese gehört haben, setzt Border Forensics die Arbeit an den anderen Elementen des Falles fort, insbesondere an den Umständen der Tötung als solcher. Denn wie Sie wissen, werden Notwehr und ihre Verhältnismässigkeit ebenfalls unter Berücksichtigung der Umstände beurteilt.

Dank der Arbeit von Border Forensics und der Unterstützung durch das Fachwissen aller Mitglieder dieser unabhängigen Kommission können wir nunmehr Klarheit über diese Umstände gewinnen, deren Analyse, wie Sie verstehen werden, für die Lösung der sich stellenden Rechtsfragen von entscheidender Bedeutung ist. Dies ist eine ausgezeichnete Nachricht für die Justiz.

Maïna Aerni
00:31:59.6    Vielen Dank, Herr Tirelli. Und dann kommen wir zu Herrn Martin Herrmann.

Martin Herrmann, Facharzt FMH für Allgemeine Chirurgie, Mitglied der Kommission (Übersetzung aus dem Französischen)
00:32:10.0   
Vielen Dank. Es muss gesagt werden, dass die vier Beamten, die vor Ort waren, wie Sie gesehen haben, mindestens 4,5 Minuten lang keine Rettungs- und Wiederbelebungsmassnahmen unternommen haben, während die liegende Person Atem- und Rumpfbewegungen machte und offensichtlich keine Bedrohung darstellte. Sie haben nicht innerhalb der erforderlichen Zeit Erste-Hilfe-Massnahmen durchgeführt, d. h. ABC – Airway, Breath, Circulation –, also die Atemwege freimachen, ihn in eine Position bringen, die sicher nicht auf dem Bauch liegend ist; sicherstellen, dass er atmet, was sie gesehen haben; und dann Kreislaufunterstützung in Form von Herzmassage geben. Und das, obwohl sie später, als sie die Handschellen anlegten, d. h. etwas mehr als zwei Minuten nach Rogers Zusammenbruch, eindeutig feststellen konnten, dass es keine Abwehrbewegungen gab, und gleichzeitig feststellten, dass er am Leben war. Es ist bekannt, dass Bewusstlosigkeit durch Sauerstoffmangel im Gehirn ausgelöst wird, und nach etwa fünf Minuten Sauerstoffmangel im Gehirn treten die ersten irreversiblen Schäden auf. Es wäre daher wichtig gewesen, dass sie, anstatt ihn mit Handschellen zu fesseln, auch nur eine grundlegende Wiederbelebung durchgeführt, und sie hätten sich nicht gefährdet.

Udo Rauchfleisch, Prof. em. für Klinische Psychologie Universität Basel, Mitglied der Kommission
00:34:38.8    Ich habe die Akten und die Vernehmungsprotokolle genau angeschaut, und daraus ergibt sich über den psychischen Zustand von Roger Wilhelm Folgendes:

Allen befragten Personen war aufgrund des verwirrenden, ängstlichen Verhaltens von Roger Nzoy Wilhelm klar, dass er psychisch krank war. Das bestätigen alle in ihren Aussagen. Er war verwirrt, er war ängstlich, und das Interessante ist: Er hat mit einem Mechaniker, der dort vor Ort war, in aller Ruhe geredet, war gar nicht aggressiv und war offenbar sehr absprachefähig. Das Ganze ist in dem Moment eskaliert, als die Polizisten:innen gekommen sind, erst zwei, dann zwei weitere, und einen relativ engen Kreis - das hat man auch im Video gesehen - einen relativ engen Halbkreis um ihn gebildet haben und ihm relativ nahe gekommen sind.

Wir wissen aus dem Umgang mit psychisch Kranken generell - und das gilt nicht nur für die Mitarbeitenden in der Psychiatrie, sondern es ist auch in Polizeikreisen bekannt, ich habe etliche Untersuchungen gelesen, auch für die Ausbildung der Polizisten:innen -, dass es eine der allerwichtigsten Maßnahmen ist, quasi eine Grundregel, die Konfrontation mit mehreren Personen unbedingt zu vermeiden. Auch das Wichtige wäre, es würde sich eine Person von der psychisch kranken Person nähern, würde in aller Ruhe mit ihr reden, würde beschwichtigend auf sie eingehen, so wie das der Mechaniker am Anfang gemacht hat. Dann wäre die ganze Situation nicht eskaliert. In der einen Publikation, in einer Zeitschrift für Polizei, hiess es ausdrücklich von einem Autor: Distanz, Distanz und nochmals Distanz. Also unbedingt Distanz aufrechterhalten, und eine Person, und in einigen Publikationen hiess es auch, eine Person des anderen Geschlechts, also das hätte hier die Polizistin sein können, aber auf jeden Fall eine Person in Ruhe sich der Person nähern und einen Dialog beginnen, dann mit grösster Wahrscheinlichkeit die Eskalation zu vermeiden gewesen sein.

Brigitte Lembwadio Kanyama, Rechtsanwältin, Mitglied der Kommission (Übersetzung aus dem Französischen)
00:37:24.8   
Ich möchte den Kontext dieses Falls beleuchten. Wie Sie wissen, gibt es in unserem Land keine Statistiken bezüglich Herkunft und Ethnie, wie sie zum Beispiel in den USA üblich sind. So müssen wir uns für eine Analyse auf die Medienberichterstattung und auf einige Daten von Verbänden stützen; diese zeigen, dass es in der Romandie (und insbesondere im Kanton Waadt) seit etwa zehn Jahren mehrere Todesfälle nach Polizeieinsätzen gibt. Und es zeigt sich, dass es sich in nahezu 100 % der Fälle bei den Opfern um rassifizierte Personen handelt.

In allen bekannten Fällen berichten die Anwält:innen der klagenden Parteien von halbherzigen Ermittlungen durch die zuständigen Behörden, sowie von willkürlich abgelehnten Beweisanträgen. Als ob die sinnbildliche Waage der Justiz von vornherein auf eine bestimmte Seite gekippt wäre.

Wenn dies zutrifft, gibt es Anlass zu ernster Besorgnis, da die in den Polizeivorschriften geforderte Sorgfaltspflicht und der Grundsatz der Verhältnismässigkeit für alle Interventionen gelten, unabhängig von der Herkunft oder dem Hintergrund der betroffenen Person.

Vor diesem Hintergrund halten es die Mitglieder der Kommission für dringend notwendig, dass der Tod von Roger Wilhelm nicht zu einem weiteren Fall wird, der vorschnell geschlossen wird, ohne die Fakten zu berücksichtigen, die die Ermittlungen und Schlussfolgerungen in eine andere Richtung lenken könnten.

Philip Stolkin, Rechtsanwalt
00:39:20.0    Vielen Dank, Frau Kollegin. Die Justitia, meine Damen und Herren, ist vielleicht blind. Aber sie darf nie faul sein. in einem Rechtsstaat, meine Damen und Herren, müssen Untersuchungen durchgeführt werden, die unabhängig, neutral und vollständig sind. Unabhängig davon, ob es ein schwarzer, ein weißer, ein gelber Mensch ist. Wir gehen davon aus, dass dies hier nicht der Fall sein wird. Wir gehen davon aus, dass die Staatsanwaltschaft bei allen Beweismitteln, trotz einer klaren Gewaltenteilung, weitaus zu früh das Verfahren einstellt. Es handelt sich um einen Menschen, der gestorben ist. Ein Mensch ist tot. und trotzdem, trotz klarer Indizien, wird dieses Verfahren eingestellt. Das ist in einem Rechtsstaat unzulässig. Justitia mag blind sein. Aber nicht faul. Und wir bitten die Waadtländer Justiz, dass sie insbesondere dann die Arbeit an sich nimmt, wenn es einen Menschen anderer Hautfarbe betrifft. Und wir werden es nicht tolerieren, dass dieser Fall vorschnell eingestellt wird. Ich habe geschlossen, danke.

David Mühlemann, Jurist
00:40:55.7    Die Frage heute ist auch, wie ernst es der Schweiz mit den Menschenrechten ist. Für einen Rechtsstaat gibt es nichts Schlimmeres, als wenn ein fürsorgebedürftiger Mensch in seinen Händen zu Tode kommt. Deshalb verlangt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in solchen Fällen eine besonders sorgfältige, objektive und unabhängige Untersuchung aller relevanten Elemente. Auf dem Spiel steht dabei nichts weniger als das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Gewaltmonopol des Staates. Wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren im Fall von Roger Nzoy jetzt einstellen will, ist das eine klare Verletzung dieser staatlichen Untersuchungspflicht und des Rechts auf Leben nach Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Schweiz wurde schon mehrfach verurteilt, weil sie in solchen Fällen keine faire Untersuchung durchgeführt hat. Heute sind wir hier um zu sagen: Wir dürfen und wollen das nicht zulassen. Danke.

Maïna Aerni, Juristin der Kommission
00:42:17.4 Vielen Dank an alle, wir kommen jetzt zu den Fragen und Antworten.

(Übersetzung aus dem Französischen)

00:42:45.2    Jean-François Schwab für die Schweizer Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Laut unseren Quellen hat die Staatsanwaltschaft, glaube ich, am 10. Oktober gesagt, dass Sie einen Monat Zeit haben, um neue Beweise vorzulegen, das läuft also heute aus. Können Sie uns bestätigen, dass das Video innerhalb dieser Frist eingetroffen ist und dass wir hier wirklich, so wie wir es gesehen haben, einen grossen neuen Beweis haben? Die zweite Frage: In Bezug auf die Tötung sagen Sie uns, dass die Untersuchung wahrscheinlich geschlossen wird – woher kommt das? Können Sie das bestätigen oder ist das eine Hypothese, um Druck auszuüben usw.?

00:43:22.0    (Me Tirelli): Um Ihnen direkt zu antworten: Nein, wir sind so, dass wir Hypothesen aufstellen würden. Was wir sagen, ist das, was wir beweisen können. Und was wir beweisen können, um Ihre Frage zu beantworten, ist, dass wir vor mehreren Wochen ein Schreiben von der Staatsanwaltschaft erhalten haben, in dem uns die Staatsanwaltschaft erklärt, dass sie die Ermittlungen wegen Tötung, die eingeleitet wurden, einstellen will. Das ist sehr klar. Der Staatsanwalt hat Farbe bekannt. Und da wir auch beantragt hatten, dass die Untersuchung auf die Straftat der unterlassenen Hilfeleistung ausgeweitet wird, die nie Gegenstand einer Untersuchung war, trotz der Beweise, die Sie gerade gesehen haben und die in den Akten sind – nun, die Staatsanwaltschaft hat uns auch gesagt: «Ich werde nicht auf Ihren Antrag auf Untersuchung wegen unterlassener Hilfeleistung eintreten.» In diesem Schreiben setzte sie uns eine Frist, die heute abläuft, um alle Beweisanträge zu stellen, welche die Richtigkeit unserer Position belegen. Aus diesem Grund haben wir gestern ein Schreiben an die Staatsanwaltschaft gerichtet, das verschiedene Beweisanträge enthält. Es handelt sich um Anträge, die mit der eigentlichen Tötungsproblematik in Verbindung stehen, und um Anträge, die mit Gutachten in Verbindung stehen, die wir gerne in den Akten sehen würden, da einige Dokumente, von denen gesagt wird, dass sie als Gutachten gelten, von Experten erstellt wurden, die wir in Frage stellen könnten. Ausserdem haben wir natürlich dieses Video geschickt, das letztlich die Zusammenfassung von Dokumenten ist, die bereits in den Akten sind, um der Staatsanwaltschaft zu zeigen, dass es nach dem Stand der Akten unvorstellbar ist, dass man nicht auf die Sache eintreten kann. Habe ich Ihre Frage beantwortet?

00:45:25.0    Guten Morgen. Felicie Potter von SRF Fernsehen, Korrespondentin in der Westschweiz. Ich bin keine Juristin, aber wenn ich es richtig verstanden habe, könnte beim ersten Teil Notwehr ein Grund sein, den die Staatsanwaltschaft nennt. Gibt es beim zweiten Teil, der unterlassenen Hilfeleistung, etwas, das die unterlassene Hilfeleistung rechtlich rechtfertigen könnte?

00:45:56.6    (Me Tirelli) Unterlassene Hilfeleistung bedeutet, dass man einer Person, die schwer verletzt wurde, keine Hilfe leistet, oder dass man einer Person, die sich in unmittelbarer Lebensgefahr befindet, keine Hilfe leistet. Sie haben die Bildern gesehen: Wir haben eine Person, die gerade drei Schüsse von der Polizei erhalten hat, sie liegt am Boden. Man kann davon ausgehen, dass diese Schüsse zu einem bestimmten Zeitpunkt abgegeben wurden. Man kann auch davon ausgehen, dass Schüsse eine unmittelbare Lebensgefahr darstellen. Und man sieht auch, dass von Seiten der Polizei nichts passiert. Wie Dr. Herrmann vorhin sagte, gibt es einige grundlegende Dinge, die getan werden sollten: sicherstellen, dass die Atemwege frei sind, sicherstellen, dass der Puls schlägt, schauen, ob die Person bei Bewusstsein ist, schauen, ob die Person empfindungsfähig ist. Das sind all diese grundlegenden Dinge, die Sie lernen, wenn Sie Ihren Führerschein machen. Und es sind diese Dinge, die die Ordnungskräfte, verstärkt im Rahmen ihrer Ausbildung lernen – aber nichts davon wird getan. Das Einzige, was uns entgegengehalten werden kann, ist, dass wir hören – und wir waren hier völlig transparent –, dass nach den Schüssen im Funk folgende Information durchgegeben wird: «Schüsse, Schüsse, Krankenwagen, schnell.» So. Die Staatsanwaltschaft könnte uns sagen, dass getan wurde, was nötig war, nur weil ein Krankenwagen gerufen wurde.

00:47:39.8    Guten Morgen. Antonio Fumagalli von der NZZ. Ich habe zwei Fragen. Die erste: Sie haben gesagt, Sie würden nicht zulassen, dass der Fall zu den Akten gelegt wird. Das hat Herr Stolkin gesagt. Wenn das der Fall sein sollte, haben Sie dann rechtlich gesehen noch eine Möglichkeit, können Sie gegen eine solche Entscheidung Einspruch einlegen? Die zweite Frage: Man sieht selten so viele Leute bei einer Pressekonferenz; Sie haben eine ziemlich anspruchsvolle Arbeit geleistet. Wie finanzieren Sie sich? Arbeiten Sie alle ehrenamtlich oder haben Sie einen Verein gegründet?

00:48:23.5    (Philip Stolkin) Das ist eine unabhängige Kommission, die sich aus freiwilligen, besorgten, wie man so schön sagen würde, Bürgerinnen und Bürgern zusammengesetzt hat, die tatsächlich von diesem Fall Kenntnis bekommen haben, und mit grosser Besorgnis auch den Fall Mike Ben Peter zur Kenntnis nehmen mussten. In Zürich kennen wir vergleichbare Fälle, mit Ali S.: 17 Schüsse in den Rücken - und es ist Notwehr. Das ist offenbar eine Tendenz in der Schweiz. Mike Ben Peter - ein Staatsanwalt, der auf Freispruch plädiert. Wir können es aus rechtsstaatlicher Sicht nicht tolerieren, alle, die hier sind, dass unterschiedliche Ellen angelegt werden, und alle, die hier sind, haben sich freiwillig zur Verfügung gestellt, für den Rechtsstaat einzutreten. Dafür, dass vollständige Untersuchungen in allen Fällen stattfinden. Dafür, wie meine Kollegin Lembwadio so richtig ausgeführt hat, dass es Statistiken gibt, die uns Auskunft darüber geben, ob der drängende und furchtbare Verdacht, dass die Hautfarbe eine Rolle in den Strafuntersuchungen spielt, ob der zufällt. und wir haben eine Grund zur Annahme, dass das so ist. Als besorgte Bürgerinnen und Bürger, die wir hier sitzen, und als Fachleute haben wir uns zur Verfügung gestellt, dies genau zu betrachten, und wir werden aus solidarischen Gründen der Familie beistehen und auch dem sehr mutigen Anwalt, mit seiner präzisen und guten Analyse des Rechts. Das Zweite: Natürlich wird man auch auf dem rechtsstaatlichen Weg - und da haben wir mit Herrn Tirelli einen ausgesprochen guten Fachmann auf der Seite - wird man natürlich Beschwerde erheben, und ich denke, es wird nicht aufhören vor dem Jüngsten Gericht. Selbst wenn Straßburg uns kein Recht gibt, werden wir nicht aufhören. Es darf und es kann nicht sein, dass wenn die Polizei involviert ist, die erste Linie der Verteidigung bei der Staatsanwaltschaft anfängt. Und wir haben den dringenden Verdacht, dass der umso mehr ist, wenn es sich um Schwarze Menschen handelt. Herr Tirelli?

00:51:05.1    (Me Tirelli) Sie haben gut geantwortet, ich kann nur noch etwas präzisieren. Wir sagen Ihnen, dass wir bis zum Ende gehen werden, um Gerechtigkeit zu schaffen, und die Gerechtigkeit, die geschaffen werden muss, besteht nicht darin, auf Teufel komm raus Verurteilungen zu erreichen. Das Prinzip der Unschuldsvermutung ist zurzeit absolut kardinal. Für uns bedeutet Gerechtigkeit, dass wir in diesem Fall Klarheit bekommen. Es geht darum, dass die Arbeit getan wird, damit genau verstanden werden kann, was passiert ist. Strassburg sagt: In Fällen, in denen ein Staatsbediensteter eine Straftat begeht, gibt es ein Recht auf eine gründliche Untersuchung. Es gibt nicht nur ein Recht auf eine gründliche Untersuchung, sondern auch ein Recht auf ein Gerichtsverfahren. Irgendwann muss man sich vor einem Gericht wiederfinden, damit offen alle Fragen diskutiert werden. Man stellt die Frage der Notwehr. Es ist möglich, dass es sich um einen Fall von Notwehr handeln könnte. Aber man muss alle Umstände des Einzelfalls analysieren, man muss sie vor einem Gericht offen diskutieren, damit alle sehen können, wie Recht gesprochen wird. Im vorliegenden Fall wird dies nicht getan. Wenn der Fall also tatsächlich zu den Akten gelegt wird oder wenn die Staatsanwaltschaft beschliesst, nicht auf die Frage der unterlassenen Hilfeleistung einzugehen, dann gibt es Rechtsmittel, und diese Rechtsmittel werden wir nutzen. Denn das Prinzip eines Rechtsmittels ist es, davon auszugehen, dass jeder Fehler macht; wir alle machen Fehler, es gibt keinen Tag, an dem wir nicht einen Fehler machen. Nun, Staatsanwälte sind nicht vor Fehlern gefeit, Richter sind nicht vor Fehlern gefeit, und deshalb gibt es im Recht Rechtsbehelfe, um eine Entscheidung anzufechten. Wenn eine Behörde einen Fehler macht, werden wir also Rechtsmittel einlegen, solange es Rechtsmittel gibt, um Klarheit in diesem Fall zu schaffen.

Technisch gesehen könnte innerhalb von 10 Tagen bei der Beschwerdekammer für Strafsachen des Waadtländer Kantonsgerichts eingelegt werden, wenn die Staatsanwaltschaft eine Einstellungsverfügung erlassen sollte. Wenn die Staatsanwaltschaft eine Nichteintretensverfügung erlassen würde, gäbe es technisch gesehen genau denselben Beschwerdeweg, vor derselben Behörde und innerhalb derselben Frist.

Natürlich kann man anschliessend weiter gehen, man kann auch vor das Bundesgericht gehen, und normalerweise sollte es dabei bleiben, weil das Bundesgericht diese Fragen der effektiven Untersuchung und des Respekts der Kläger sehr ernst nimmt. Aber ja, wenn es sein muss, gibt es Strassburg und es ist absolut denkbar, Strassburg anzurufen.

00:54:00.0    Guten Morgen! Achille Karangwa für die Zeitung Le Courrier. Wenn ich richtig verstanden habe, gibt es in dem Video einen Moment, in dem zu sehen ist, wie der dritte Beamte, glaube ich, in sein Funkgerät spricht, und Sie erwähnten, dass es in der Akte keine entsprechende Aufzeichnung zu diesem Zeitpunkt gibt. Wie ist das verfahrensrechtlich möglich? Welches sind Ihre Hypothesen hierzu?

00:54:28.0    (Me Tirelli) Noch einmal: Wir sind nicht hier, um Hypothesen aufzustellen. Aber Sie sehen, wie wichtig es manchmal ist, sich die Zeit zu nehmen, um alle Teile einer Akte zu analysieren. Ich bin Jurist, genau wie der Staatsanwalt. Es gibt Dinge, die ich nicht sehe. Aber wenn man Personen, die professionell ermitteln und mit Technologien arbeiten, die es ermöglichen, das Video und die Audios, die wir in der Akte haben, zusammenzufügen, dann merkt man: Wenn man das alles in eine chronologische Reihenfolge bringt, in eine Zeitleiste, dann sieht man, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Person in sein Funkgerät spricht, und es muss natürlich das Gespräch geben, das dazu gehört. Und was die Wissenschaftler von Border Forensics herausgefunden haben, ist, dass es zwar Gespräche gibt, in denen ein Beamter in sein Funkgerät spricht und das dazugehörige Gespräch vorhanden ist. Aber es gibt auch einige – wenn ich mich nicht irre, zumindest zwei –, in denen man den Beamten in sein Funkgerät sprechen sieht und es keine entsprechenden Aufzeichnungen in den Akten gibt. Aufgrund dieser Feststellung haben wir im Rahmen der Beweisanträge, die wir gestern gestellt haben, die Staatsanwaltschaft aufgefordert, diese fehlenden Aufnahmen zu beschaffen. Ich stelle keine andere Hypothese auf als diese, d. h., dass wir alle Akten haben sollten. Die Staatsanwaltschaft hat nicht alle relevanten Beweise in ihrer Akte, also wird sie sie holen. Denn wiederum: Zu wissen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt wurde – vielleicht gibt es Mitteilungen über Nzoys Gesundheitszustand zu diesem Zeitpunkt, vielleicht gibt es eine Kommunikation für eine Person zu medizinischen Fragen, die wichtig sind und die auch für die Verteidigung der Beamten wichtig sein könnten. Wir müssen also unbedingt wissen, was zu diesem Zeitpunkt gesagt wurde. Denn, noch einmal: Wir gehen nicht davon aus, dass die Staatsanwaltschaft, da sie weiss, dass es in der Akte eine Informationslücke gibt – wir wissen es jetzt –, nichts unternimmt. Wir werden mehr wissen, wenn die Staatsanwaltschaft auf dieses Ersuchen reagiert, was sie sicherlich tun wird.

00:56:46.2    Guten Morgen! Andreas Stüdli für das Schweizer Radio hier. Sie haben auch die Arbeit der Waadtländer Justiz oder der Staatsanwaltschaft insgesamt infrage gestellt – wie beurteilen Sie die Tatsache, dass diese Untersuchung von demselben Staatsanwalt – Laurent Maye – durchgeführt wurde, der im Fall Mike Ben Peter zuständig war und der die Anklage mitten im Prozess fallen gelassen hat?

00:57:15.9 (Me Tirelli) Ist das eine Frage an mich? Also wissen Sie, ich beschäftige mich nur mit dem Fall Nzoy, ich bin nicht befugt, mich zu einem Bigger Picture in diesem Fall zu äussern. Vielleicht ist jemand anderes in diesem Gremium besser geeignet, diese Frage zu beantworten, also werde ich das Mikrofon weitergeben.

00:57:37.5    (Philip Stolkin) Grundsätzlich gelten in der Strafprozessordnung die Ausstandsgründe, auch für die Staatsanwaltschaft. Und wir erachten genau diesen Punkt als äusserst bedenklich. Es ist für uns unverständlich, dass der gleiche Staatsanwalt, der schon mal vorschnell versucht hat, eine Untersuchung zu blockieren, und der dann in einer Gerichtsverhandlung, meine Damen und Herren, der Staatsanwaltschaft, man bedenke das bitte - der gleiche Staatsanwalt, der in einer Gerichtsverhandlung auf Freispruch plädiert, der dieses Paradox hinkriegt, soll in diesem Fall in einer ähnlichen Konstellation untersuchen. Gehen wir also davon aus, dass Revokationsgründe auch für die Staatsanwaltschaft gelten, so ist das für uns ein äusserst bedenkliches Signal, dass genau dieser Staatsanwalt, der offensichtlich tendiert, einen Ladendieb mit der gesamten Macht des Rechtsstaates zu verfolgen und bei einem Todesfall auf Freispruch zu plädieren, diesen Fall untersuchen will und nun tatsächlich die Entscheidung des Gerichts vorwegnimmt und Teile davon schon eingestellt hat. Wir erachten dies als bedenklich und als rechtsstaatlich fragwürdig.

00:58:59.0    Carlos Hanemann von Die Republik. Eigentlich hatte ich die gleiche Frage, aber ich wollte sie Herrn Tirelli stellen. Haben Sie einen Antrag auf Ablehnung des leitenden Staatsanwalts gestellt?

00:59:15.5 (Me Tirelli) Nein, ich habe keinen Antrag auf Ablehnung des zuständigen Staatsanwalts gestellt, wiederum weil ich mich mit meinem Fall befasse, mit dem Fall Nzoy, einfach gesagt, und ich bin nicht befugt, Analogien zu anderen Fällen zu ziehen. Die Bedingungen, um die Ablehnung eines Richters zu beantragen, sind äusserst streng. Es muss eine echte Hinderung nachgewiesen werden, d. h. seine Meinung zu dem Fall wäre bereits gebildet, es bestünde eine Feindschaft mit einer der Parteien oder eine Freundschaft mit einer anderen Partei. Streng genommen habe ich in diesem Fall bislang nichts solches gesehen. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass sich angesichts der Beweismittel, wie wir sie heute hier sehen, einige Fragen stellen würden, falls er das Nichteintreten bestätigen sollte. Gegen einen Nichteintretensentscheid werde ich natürlich Beschwerde einlegen, und falls die Beschwerde gutgeheissen und an die Staatsanwaltschaft zurückgeschickt wird, wird man die Lehren aus dieser Entscheidung ziehen, und es ist klar, dass ein Magistrat, der bei einem solchen Dossier einen Nichteintretensentscheid gefällt hat, aus meinerSicht nicht in der Lage sein wird, den weiteren Verlauf des Verfahrens objektiv zu untersuchen, falls das Verfahren an ihn zurückgehen sollte. Aber das ist Zukunftsmusik, und ich hoffe, dass diese Zukunft nicht eintritt. Ich hoffe, dass die Dinge mit der Zusammenstellung der Beweise, die wir gemacht haben, klar genug liegen, damit eine effektive Untersuchung durchgeführt werden und dieser Fall eines Tages von einem Gericht beurteilt werden kann.

01:01:06.0    (David Mühlemann) Ich möchte auch einfach noch einmal auf den menschenrechtlichen Kontext hinweisen und die menschenrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz. Die Schweiz sieht sich seit mehr als zwanzig Jahren mit Forderungen von diversen internationalen Gremien konfrontiert, unabhängige Beschwerdestellen bei Polizeigewalt zu schaffen. Die Schweiz wurde mehrfach verurteilt, weil eine solche unabhängige Untersuchung nicht durchgeführt wurde. Das ist eine Aufforderung an die Behörden zu schauen, was es für Möglichkeiten gibt, um diese Unabhängigkeit sicherzustellen. Und hier gäbe es ja auch Spielraum. Also man könnte auch ausserkantonale Staatsanwaltschaften einsetzen. es ist auch ganz wichtig zu sehen, dass diese Unabhängigkeit nicht nur faktisch gewährleistet werden muss, sondern auch eben dem Anschein nach. Das ist auch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bekannt.

01:02:02.6    (Philip Stolkin) Dies gilt übrigens insbesondere dann, wenn es sich um eine Staatsanwaltschaft im selben Kanton handelt und die gleichen hierarchischen Verhältnisse zwischen der Polizei und der Staatsanwaltschaft existieren. Gerade in diesem Moment hat sich Straßburg mehrfach dafür ausgesprochen, dass es eine unabhängige, von einer unabhängigen Staatsanwaltschaft, eine Sonderstaatsanwaltschaft bedarf. Genau damit es eben nicht zu Freispruchsanträgen der Staatsanwaltschaft kommt. Aber das ist in einer Ebene, die selbstverständlich die Kommission zu betrachten hat.

01:02:41.6    (Jean-François Schwab, Keystone-ATS) Es ist vielleicht schwierig zu antworten, aber mit dem, was Sie heute in die Akte einbringe, mit dieser Pressekonferenz: Welche Chancen sehen Sie, dass Sie das Blatt wenden können? Sie sind vielleicht nicht hier, um Prognosen zu machen, aber können wir daraus entnehmen, ob es eine Chance zwischen 1 und 10 gibt, dass wir 2024 oder 2025 einen Prozess haben werden? Glauben Sie daran? Ich denke schon, aber können Sie sich dazu äussern?

01:03:11.8 (Me Tirelli) Aus Erfahrung schätze ich die Chancen auf einen Prozess in einem Fall wie diesem auf 10. In solchen Fällen, gerade bei schweren Verbrechen, die von Staatsbeamten begangen wurden und von Staatsbeamten untersucht wurden, muss es mit der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zweifellos einen öffentlichen Prozess geben. Ich bin also sehr zuversichtlich.

01:03:39.5    Fabiano Citroni von RTS Télévision. Frage an Me Tirelli: Ich möchte mich nur auf den ersten Teil konzentrieren, den der Untersuchung wegen Tötung. Der Staatsanwalt bereitet sich also darauf vor, das Verfahren einzustellen. Er hat seine Entscheidung noch nicht formell verkündet, daher haben wir noch keine detaillierten Argumente. Wir können uns vorstellen, dass er die These der Notwehr aufstellt. Warum sind Sie in diesem Fall der Meinung, dass die Notwehr nicht stichhaltig ist?

01:04:12.1 (Me Tirelli) Herr Citroni, die Frage ist viel umfassender. Ich sage nicht, dass die Notwehr nicht stichhaltig ist. Ich sage, dass dieser Fall zum jetzigen Zeitpunkt vor Gericht gehen muss, denn Notwehr, nun, das ist nicht etwas Mechanisches. Es gilt nicht, dass jedes Mal, wenn jemand mit einem Messer einem Polizisten gegenübersteht, der Polizist berechtigt ist zu schiessen. Das ist nicht einfach so. Wir haben solche Fälle gesehen, wir haben solche Urteile vom Bundesgericht gesehen, aber wie Sie wissen, wie gute Gerichtsreporter wissen, ist jeder Fall anders und die Umstände des Einzelfalls müssen jedes Mal anders bewertet werden. In einem Fall wie diesem hängt die Notwehr also von den Umständen ab. Die Umstände sind: vier Polizeibeamte auf einem Bahnsteig, auf dem sich keine Passagiere mehr befinden, gegenüber einer Person, die psychisch gestört ist. Gegenüber einer Person, die zu Beginn des Einsatzes ruhig ist, gegenüber einer Person, die mit jemandem kommuniziert, der nicht mit einer Pistole auf ihn zeigt. Und schliesslich kommt es zu einer Eskalation, als die Polizei in hohem Tempo eingreift, rennend und mit einer Waffe in den Händen, was für eine Person, die sich auf den Gleisen befand und sich wahrscheinlich das Leben nehmen wollte oder was auch immer, nicht die richtige Art ist. Und all diese Umstände müssen in diesem Fall analysiert werden. Hinzu kommt, dass Border Forensics, wie ich bereits sagte, ebenfalls an dieser Problematik arbeitet – Sie haben die sensationelle Arbeit gesehen, die auf der Grundlage von Medien-, Audio- und Videoelementen geleistet wurde. Wir haben jetzt eine Audio-Video-Datei. Audio-Video kennen wir von unserem Alltag, das ist leicht verständlich, so wie es ist. Anstatt die Datei X.24 zu einem bestimmten Zeitpunkt zu öffnen, herauszufinden, wann es gemacht wurde, dann das von Herrn Y produzierte Video 23 zu öffnen, ohne zu wissen, um welche Uhrzeit es aufgenommen wurde, also muss man sich die Metadaten ansehen und so weiter, nun, diese Arbeit wird Border Forensics auch für die erste Phase des Falles machen, sie sind gerade dabei, sie zu machen. Und ich kann Ihnen versichern, dass dies wiederum ein anderes Licht auf den Fall werfen wird und dass wir vor Gericht stehen werden, und nur das Gericht wird beurteilen, ob unter diesen Umständen Notwehr vorliegt oder nicht.

01:06:48.0    (Antonio Fumagalli) Nur eine technische Frage: Wie haben Sie diese Videos, diese Zeugenaussagen gesammelt? Haben Sie sie von der Polizei erhalten? Das kann ich mir nicht vorstellen. Oder haben Sie andere Quellen?

01:07:02.4 (Me Tirelli) Alles, was das Ausgangsmaterial angeht und was das Video ausmacht, steht in der Akte des Staatsanwalts. Wir haben nichts anderes verwendet als das, was in der Akte steht. So. Aber jetzt kann man viel leichter lesen und verstehen, was in der Akte steht, als wenn man die Akte «Beweisstück» öffnet, dann das erste Video öffnet, dann das zweite Video öffnet, von dem man nicht weiss, von wem und wann es aufgenommen wurde; denn sehen Sie, so sieht eine Akte aus. Und jetzt ist alles zusammengesetzt worden und man kann mit den Augen folgen, man kann hören, was gesagt wird oder was nicht gesagt wird, und man kann verstehen, was passiert ist. Und dann können wir urteilen.

01:07:56.4    (Antonio Fumagalli) Dürfen Sie uns rechtlich gesehen all das zeigen, wo doch eine laufende Untersuchung besteht?

01:08:01.6    (Me Tirelli) Absolut, da gibt es kein Problem. Ich darf Ihnen das zeigen. Ich bin lediglich an den Persönlichkeitsschutz gebunden. Ich muss nur dafür sorgen, dass durch diese Bilder die Persönlichkeit der abgebildeten Personen nicht verletzt werden. Und ich darf auch nicht die Unschuldsvermutung verletzen – was ich nicht tue. Also ist es für uns in Ordnung.

01:08:26.0    Cédric Jotterand aus Morges von 24 heures. Ich möchte mich nicht wiederholen oder offene Türen einrennen, aber was ich nicht ganz verstehe, und das ist die Frage, die ich stellen wollte, ist, dass Sie immer sagen, Sie würden einen Beweis bringen, einen ganz neuen Beweis, aber diese Beweise wurden Ihnen von genau der Institution geliefert, die Sie kritisieren. In der Regel ist ein Beweis etwas Neues, etwas, das aufschlussreich ist. Und auch wenn ich die aussergewöhnliche Arbeit, die Sie zitieren, nicht infrage stelle, meine ich Arbeiten zur Chronologie gesehen zu haben, insbesondere im Téléjournal der TSR, die auch diese fehlenden Timings erklärten, und ich sehe den formellen Beweis, den Sie erbringen, nicht klar, zumal er Ihnen von der Institution, die Sie selbst kritisieren, geliefert wird.

01:09:12.3    (Me Tirelli) Um es ganz klar zu sagen: Es ist kein Beweis, was wir in die Akte einbringen. Es ist eine Analyse der Beweise. Es ist eine Erklärung der Beweise, die es gibt. Die Beweise sind die Videos, aus denen diese Audio-Video-Datei besteht, die Sie sehen. Die Beweise sind die Audios, aus denen sie besteht. Wir hatten mehrfach schriftlich formuliert, dass auf der Grundlage dieses Videos dies und jenes zu sehen ist oder dass der Polizist dies und jenes sagt. Schriftlich funktioniert das offenbar nicht. So haben wir einfach eine Art der Darstellung gewählt, die viel leichter zu lesen ist, wenn es darum geht, Videos oder Audiodateien zu beurteilen. Das heisst: Nein, es ist kein Beweis, es ist ein Dokument, das es ermöglicht, die Beweise, die in den Akten sind, zu verstehen.

01:10:02.2   (Philip Stolkin) Und vor allem: Diese Analyse ist eine Expertenmeinung. Diese ist immer ein Beweis.

Maïna Aerni
01:10:25.1    Keine weiteren Fragen? Sehr gut. Dann danke ich Evelyn Wilhelm, Me Tirelli, allen Teilnehmenden der Kommission sowie Elio Panese für Border Forensics. Ich möchte Sie daran erinnern, dass Border Forensics Geld benötigen, um ihre Ermittlungen fortsetzen zu können. Sie finden daher den QR-Code hier eingeblendet. Ich danke Ihnen für Ihre Anwesenheit und wünsche Ihnen einen schönen Rest des Tages. Vielen Dank.

01:10:58.1 (Applaus)

Maïna Aerni
Eine Pressemappe ist am Ausgang auf Deutsch und Französisch erhältlich.

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